Konflikte sind nervenaufreibend. Meistens schlafen wir nicht mehr gut, unser Herz klopft, manchen Menschen wird richtig übel, wenn Konflikte auf der Tagesordnung stehen. Ich knirsche dann nachts mit den Zähnen, werde rastlos und wirsch. Wenn du mich im Lebensmittelgeschäft mitten im Gang stehen siehst, versunken in Gedanken, mit Pasta in der einen Hand und mit der anderen zähle ich die Tomatendosen im Regal, dann kannst du dir sicher sein: Judith steht ein Konflikt bevor. Wir glauben, dass Konflikte das Gegenteil von Harmonie sind und nicht selten versuchen wir ihnen deswegen so lange es eben geht aus dem Weg zu gehen. Das hat einen Grund, der viel weiter zurückliegt, als du jetzt denken magst. Aber ist dieses aus-dem-Weg-gehen wirklich die Lösung, wenn wir die Harmonie wahren wollen oder sind wir vielleicht harmoniesüchtig?
Lass uns einen Moment dazu nutzen, zu schauen, was eigentlich ein Konflikt ist.
Konflikt kommt von confligere, was übersetzt „zusammentreffen, kämpfen“ bedeutet. Es treffen also zwei Erwartungen, Bedürfnisse, Interessen, Ziele oder Meinungen aufeinander. Manchmal haben wir einen inneren Konflikt, wenn wir uns mit uns nicht einige werden. Oft ist der Konflikt aber eher im Außen.
Eine Kollegin oder ein Kollege hat eine andere Art, mit etwas umzugehen, als wir. Unsere Partnerin oder unser Partner hat ein anderes Interesse an Urlaub. Unsere Mutter hat ein anderes Verständnis von Nähe und Distanz. All das sind typische Themen, weswegen Menschen Konflikte haben.
Wer ignoriert, dass es manchmal eben dazu kommt, dass wir an einer Stelle grad nicht zusammenkommen und stattdessen versucht, zwangsweise Harmonie herzustellen, vergisst dabei, dass beide Seiten ein Bedürfnis haben, das gesehen werden will.
Harmoniesüchtige Menschen meinen es oft gut. Mehr als gut. Denn Frieden und Harmonie sind meiner Meinung nach erstrebenswerte Ziele! Doch bei einer Harmoniesucht vergessen wir häufig, dass es meist nur noch mehr kocht und brodelt, wenn wir etwas unter den Teppich kehren. Wir sitzen dann auf einem Pulverfass, dass jeden Moment hochgehen könnte – und das spüren wir die ganze Zeit.
Dabei hindern wir oft nicht nur andere Menschen daran, ihre Meinung zu sagen, sondern auch uns selbst. Wenn wir harmoniesüchtig sind, dass wollen wir auf jeden Fall vermeiden, dass es zu einem Konflikt kommt. Koste es, was es wolle. Und wenn das unser eigener innerer Frieden ist.
Woran erkenne ich, dass ich harmoniesüchtig bin?
- du möchtest direkt beschwichtigen, sobald es zu einem Konflikt kommt
- du entschuldigst dich, immer, ganz gleich, ob das sinnig ist oder nicht (lies hier mehr, wenn es dir so geht!)
- du kritisierst nie und wirst auch nicht gern kritisiert
- deine Komfortzone ist der einzige Ort, den du besuchst
Warum sind wir harmoniesüchtig?
Ich habe mich schwer damit getan, das Wort „Sucht“ auch wirklich zu benutzen. Denn wenn wir von einer Substanz oder einem Verhalten abhängig sind, dann bedeutet das im Umkehrschluss, dass wir Entzugserscheinungen bekommen, dass wir unser Verhalten anpassen, unser gesamtes Leben danach ausrichten, dieser Sucht nachzugehen.
Genau deswegen habe ich mich dafür entschieden und nicht „stark harmoniebedürftig“ oder „harmoniesuchend“ benutzt. Denn bei einer Harmoniesucht passiert eben genau das: alles dreht sich darum, die Harmonie herzustellen, zu bewahren.
Der Grund kann beispielsweise sein, dass wir Angst vor negativen Konsequenzen haben. Wir möchten lieber nicht kritisieren, kein konstruktives Feedback geben, aus Angst vor der Wut der anderen Person. Oder der Abweisung. Liebesentzug ist eine Sanktion, das viele Menschen erfahren und häufig aus ihrer Kindheit kennen.
Sowohl Abweisung als auch Liebesentzug oder auch das Ausschließen aus einer Gruppe (bspw. Kolleg:innen, Arbeitsgruppe, Zweierbeziehung) können in uns starke Verlustängste hervorrufen.
Und das macht total Sinn!
Ich möchte mit dir ein paar Jahre zurückreisen. Zuerst in deine Kindheit. Oder meine. Wichtig: eine Kindheit. Als Kinder sind wir darauf angewiesen, dass sich jemand um uns kümmert. Nicht nur, dass die Küchenschränke viel zu hoch sind, sondern wir brauchen Schutz, Zuwendung, Nähe, Wärme in beiderlei Hinsicht: räumlich aber auch im Herzen. Das sind ebenfalls Grundbedürfnisse eines Menschen, die für eine gesunde Entwicklung erfüllt sein wollen. Ich stelle jetzt einfach mal in den Raum, dass die meisten von uns nicht unbedingt „so gesund entwickelt“ sind. Oft gab es keine Konfliktkultur, in der das Kind ein anderes Bedürfnis haben durfte als die Eltern oder Bezugspersonen und musste sich anpassen. Diese Anpassung war essenziell, um Schutz, Zuwendung, Nähe, Wärme zu bekommen. Smart von unserem System!
Lass uns noch weiter zurückreisen. Mehrere tausend Jahre, als wir noch in Sippen zusammengelebt haben, mit dem Latz um den Po und dem Mammut im Vorgarten. Zu der Zeit war es lebensnotwendig, zusammenzuleben. Zum Jagen, zum Verteidigen. Um Nahrung zu tauschen, sich umeinander zu kümmern.
Es ist also in uns verankert, Teil einer Gruppe sein zu wollen.
Wenn wir nicht gelernt haben, einen Konflikt kommunikativ zu lösen, können wir beispielsweise harmoniesüchtig werden.
Harmoniesucht verhindert aber auch, dass wir es zulassen, gesehen zu werden. Wir zeigen uns nicht, zeigen unsere Bedürfnisse nicht und wir sehen den anderen Menschen auch nicht, weil wir Angst haben, dass wir dann einen Konflikt sehen, den wir sofort „wegmachen“ wollen.
Wenn wir einander auf Augenhöhe und authentisch begegnen wollen, dann dürfen – ja müssen – wir unsere Harmoniesucht heilen.
Und noch ein P.S: je mehr wir unsere Bedürfnisse unterdrücken, umso mehr spüren wir das in unserem Körper. Harmoniesucht ist eine zutiefst körperliche Angelegenheit.
Heilung der Harmoniesucht
„Was kann ich nun konkret tun, wenn ich merke, dass ich harmoniesüchtig bin?“, fragt sich jetzt vielleicht der/die ein oder andere.
Ich möchte dir 4 Tipps mitgeben, dir mir geholfen haben, meine eigene Harmoniesucht zu überwinden.
- Mund auf und durch. Das klingt richtig ätzend, aber indem wir üben, uns auszudrücken und unsere Bedürfnisse zu artikulieren, lernen wir ein alternatives Verhalten zur Harmoniesucht.
- Nimm deinen Körper mit. Du spürst starke Erregung, wenn du darüber nachdenkst, deine Meinung zu sagen? Hallo Nervensystem! Der Selbstschutz, um dich vor der Isolation zu schützen, ist aktiv. Schüttle dich, tanze, bringe dich ins Schwitzen und agiere deine Stresshormone aus.
- Nimm dir Unterstützung mit. In einem Coaching kannst du im sicheren Rahmen üben, deinen Körper dabei zu spüren und Formulierungen zu finden, um dich auszudrücken. Du kannst Situationen durchsprechen, um neue Perspektiven zu bekommen.
- Nimm dich selbst ernst. Wenn wir es gewohnt sind, immer alle Konflikte zu vermeiden, vermeiden wir es auch, unsere Bedürfnisse ernst zu nehmen.
Das Schöne ist: du wirst dadurch mehr Energie gewinnen. Denk mal an die vielen Momente, in denen du mehrere Extrarunden im Gedankenkarussell gedreht hast. Wie viel Zeit und Kraft dafür draufging, um die eigenen Gefühle zu unterdrücken.
Diese Zeit und Energie steht dir bald zur Verfügung!
Du hast Lust, deine Harmoniesucht zu überwinden? Dann könnte abunDance genau das richtige für dich sein!
Liebe Judith,
ich bin auf Deinen Text gestoßen, weil ich nach einem Begriff suche, von dem ich glaubte, dass es „Harmonie“ sei. Ist in Deinen Augen „Harmonie“ nur das, was entsteht, wenn ich Konflikte unter den Teppich kehre? Ist Harmonie nicht auch das, was entsteht, wenn ein Konflikt gelöst wurde? M.a.W. kann es auch eine positive Ausprägung der Harmoniesucht geben, weil sie mich antreibt, Konflikte ans Licht zu bringen, anzusprechen und zu lösen?
Hej Leif,
danke dir für deine Gedanken!
Harmonie ist das, was entsteht, wenn wir Konflikte lösen und mit ihnen sind. Mir war es wichtig, den Unterschied zu zeigen: Harmonie bedeutet nicht, dass es keine Konflikte gibt, sondern dass der Umgang mit ihnen die Harmonie möglich macht – oder man sich bewusst dagegen entscheidet.