Einleitung: Wenn Essen mehr ist als Nährstoffzufuhr
Essen ist nie nur Essen. Es ist Kultur, Identität, Beziehung und oft auch Bühne. In kaum einem anderen Bereich unseres Alltags spiegeln sich gesellschaftliche Normen, Schönheitsideale und Geschlechterrollen so unmittelbar wider wie beim Essen. Was wir essen, wie viel, wann und mit wem – all das ist geprägt von tief verankerten Vorstellungen davon, was „normal“, „gesund“ oder „richtig“ ist. Und genau deshalb lohnt sich ein genauer Blick auf die Frage: Wie beeinflusst Gender unser Essverhalten?
Ein Blick zurück: Wie Schlankheit zur weiblichen Tugend wurde
Schon im 18. und 19. Jahrhundert galten klare Regeln für das „richtige“ Verhalten von Frauen. Auch beim Essen. Zarte Körper, kleine Portionen, Zurückhaltung am Tisch: All das galt als Zeichen von Anstand und Weiblichkeit. Üppiges Essen hingegen wurde als unweiblich und unschicklich empfunden. Während Männer sich über Arbeit und gesellschaftliche Stellung definierten, war der Körper der Frau ihr Kapital.
Mit dem Aufstieg des Bürgertums und dem damit verbundenen Ideal der disziplinierten, tugendhaften Frau wurde Schlankheit zunehmend zum sozialen Statussymbol. Diese Vorstellung verstärkte sich im 20. Jahrhundert durch Werbung, Kochbücher und Zeitschriften. Frauen wurden als zarte Esserinnen inszeniert, während Männer in Werbungen genussvoll Fleisch konsumierten.
Die Folge: Schlanksein wurde für Frauen zur Pflicht, Essen zur moralischen Frage.
Studien zeigen, dass diese historischen Rollenzuschreibungen bis heute nachwirken – häufig unbewusst. (vgl. Bordo, S. 1993. Unbearable Weight: Feminism, Western Culture, and the Body)
Männlich deftig, weiblich leicht? Essensbilder in der Gegenwart
Bis heute gibt es klare gesellschaftliche Bilder davon, was als „männlich“ oder „weiblich“ beim Essen gilt:
- Männlich: deftig, fettig, proteinreich, viel (z. B. Fleisch, Bier, Burger)
- Weiblich: leicht, gesund, kalorienarm, diszipliniert (z. B. Salat, Smoothies, Joghurt)
Diese Zuschreibungen wirken sich auch konkret auf das Verhalten aus. In einer Studie des Journal of Consumer Research wurde gezeigt, dass Frauen eher zu Salaten griffen, wenn sie sich beobachtet fühlten, während Männer in derselben Situation häufiger deftige Speisen wählten – unabhängig von tatsächlichem Appetit.
Vgl. Rozin et al. (2012): „Gender differences in food choice and health beliefs: interactions with willingness to try new foods in young adults.“
Die gesellschaftliche Brille, die wir aufgesetzt bekommen und durch die wir auf Essen schauen, beeinflusst also unsere Entscheidungen. Oft subtil, aber wirkungsvoll.
Kontrolle, Scham und die Moral des Essens
Für viele weiblich sozialisierte Menschen und Frauen ist Essen nicht nur mit Genuss verbunden, sondern auch mit Kontrolle und Schuld. Fragen wie „Darf ich das noch essen?“ oder „War das jetzt zu viel?“ begleiten häufig jede Mahlzeit. Die Diätkultur hat diesen moralischen Überbau perfektioniert:
- Wer wenig isst, ist diszipliniert.
- Wer Süßes meidet, hat Selbstbeherrschung.
- Wer zunimmt, hat versagt.
Diese Denkweise betrifft vor allem weiblich sozialisierte Menschen. Studien zeigen, dass sie deutlich häufiger Diät halten, Kalorien zählen oder restriktiv essen, nicht selten getrieben von gesellschaftlichem Druck.
Laut einer Umfrage der Universität Zürich (2020) machen über 60 % der befragten Frauen (Selbstbezeichnung) regelmäßig Diät. Bei Männern sind es weniger als 30 %.
Das Ergebnis: Viele Menschen verlieren den Zugang zu ihren natürlichen Hunger- und Sättigungssignalen. Stattdessen wird gegessen (oder nicht gegessen) nach Regeln, Uhrzeit, Verboten.
Die queere Perspektive: Wenn Essen zum Akt der Selbstbehauptung wird
Für queere Menschen, besonders trans*, nicht-binäre und gender-nonkonforme Personen, spielt das Thema Ernährung oft eine noch komplexere Rolle. Körperdysphorie, der Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung oder das Erleben von Diskriminierung beeinflussen das Essverhalten.
Eine systematische Übersichtsarbeit (Diemer et al., 2021) zeigte, dass trans* Personen signifikant häufiger von Essstörungen betroffen sind als cisgeschlechtliche Menschen. Gründe dafür sind u. a.:
- der Wunsch, den Körper an das eigene Genderempfinden anzupassen (z. B. durch Muskelaufbau oder Gewichtsreduktion)
- soziale Ausgrenzung oder Bodyshaming
- die fehlende Sichtbarkeit in klassischen Ernährungstherapien
Quelle: Diemer, E. W., White Hughto, J. M., & Gordon, A. R. (2021). Eating disorders in transgender and gender diverse individuals: A systematic review.
Gleichzeitig nutzen viele queere Menschen Essen auch bewusst als Akt der Rebellion und Selbstfürsorge, als Möglichkeit, sich vom Mainstream zu emanzipieren und neue Narrative zu schreiben.
Medien, Diätkultur und Gender-Marketing: Wie Werbung unser Bild von „gutem Essen“ prägt
Werbung und Social Media zeigen uns tagtäglich, wie wir essen sollten und verknüpfen Produkte gezielt mit Geschlechterrollen:
- Die Frau: schlank, diszipliniert, ästhetisch – mit Light-Joghurt, Detox-Tee und Salat
- Der Mann: stark, muskulös, leistungsfähig – mit Steak, Burger, Proteinriegel
Dieses sogenannte Gender-Marketing beeinflusst Konsumentscheidungen und Körperwahrnehmung massiv. Es schreibt nicht nur bestehende Normen fort, sondern verstärkt sie auch. Die Folge:
- weiblich sozialisierte Menschen entwickeln häufiger restriktives Essverhalten.
- Männer vermeiden aus Angst vor „Unmännlichkeit“ bewusste Ernährung.
Eine qualitative Studie von Vartanian & Thomas (2022) zeigt, dass Frauen in sozialen Kontexten eher zu gesellschaftlich akzeptierten Speisen greifen – selbst bei Hunger auf etwas anderes.
Wege raus: Body Neutrality und Intuitives Essen
Die gute Nachricht: Es gibt Auswege aus dieser Spirale aus Diätkultur, Körperkontrolle und Gender-Stereotypen. Zwei Bewegungen, die hier besonders wichtig sind:
- Body Neutrality: Dein Körper muss nicht schön oder perfekt sein, er darf einfach sein. Es geht um Respekt, nicht um Idealbilder. Du darfst deinen Körper nähren, auch wenn du grad nicht mit ihm zufrieden bist.
- Intuitives Essen: Wieder spüren lernen, was dein Körper braucht, unabhängig von Kalorien, Diätregeln oder gesellschaftlichen Erwartungen.
Diese Konzepte entlasten. Sie geben Menschen die Erlaubnis, sich selbst wieder zuzuhören. Und sie helfen, die eigene Ernährung nicht als Projekt, sondern als Beziehung zu begreifen.
Literaturtipp: Harrison, C. (2019). Anti-Diet: Reclaim Your Time, Money, Well-Being, and Happiness Through Intuitive Eating.
Essen ist politisch – und du darfst es zurückerobern
Was, wie und warum wir essen, ist tief verbunden mit gesellschaftlichen Strukturen. Wer das erkennt, kann anfangen, sich davon zu befreien. Essen darf wieder das sein, was es ursprünglich war: Versorgung, Genuss und Verbindung. Mit dir selbst, aber auch mit deiner Community. Schließlich ist Essen ein hoch sozialer Akt!
Gender sollte nicht darüber entscheiden, wie du isst oder was du über deinen Körper denkst. Du darfst dich satt essen, du darfst genießen, du darfst deinen Körper ernst nehmen – genau so, wie er ist.
Ernährung ist nicht geschlechtsneutral. Aber sie kann individuell, befreiend und empowernd sein – wenn wir aufhören, uns an Normen zu messen, die nie für uns gemacht waren.
Außerdem kann sie rebellisch sein! Immer mehr weiblich sozialisierte Menschen feiern das Satt-Sein. Sie feiern, diese männlich dominierten Räume aufzubrechen und den Grill zu erobern.
(Das Thema Veganismus wäre hier auch noch spannend zu beleuchten. Schließlich bedeutet Fleischessen Unterdrückung. Es macht also Sinn, dass es männlich konnotiert ist und viele vegan lebenden Männer lächerliche Sprüche zu hören bekommen wie “das ist unmännlich” oder “nur Fleisch macht Fleisch!!!1!!!” – was im übrigen Unsinn ist.
Fleisch bedeutet hier = Muskeln = Mann.
Aber das Thema hat einen eigenen Artikel verdient!)
Und noch meine persönlichen 5 Cent: Ernährung und Bewegung kann dabei unterstützen, den Körper ästhetisch dem inneren Selbstbild anzupassen. Warum sollte ein Muskelaufbau an bestimmten Körperregionen nicht helfen, sich auch öffentlich mehr einem Gender zugehörig zu fühlen? Warum sollte eine bestimmte Ernährungsweise nicht dabei helfen, sich einem Gender stärker zugehörig zu fühlen?
Wichtig ist lediglich, dass beides auf gesunde Weise geschieht. Dass nicht der Zwang das Essen bestimmt, sondern die Selbstfürsorge.
Was sind deine Gedanken dazu? Schreib sie mir in die Kommentare!